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Zyklus nach Gedichten von Arsenij Tarkovskij

für Mezzosopran

und acht Instrumentalisten

  1989-91   Besetzung: Mezzosopran – Altfl.Eh.Bkl. – Hrf.Perc(1Sp) – Va.Vc.Kb   ~29’

 

text

 

Prof. Dr. Frank Schneider:

Zum Tarkovskij-Zyklus von Stephan Winkler (Programmhefttext, 1991)

 

 

Es bedarf nur weniger Blicke in die Partitur dieses Werkes, um zu spüren, dass sie zu genauer Betrachtung verlockt, weil sie eine ebenso vielgestaltige wie enigmatische Klanglandschaft verschlüsselt, die hörend zu erschließen sich genussreich lohnen dürfte. Man ersieht aus der Handschrift der Noten nicht bloß die Lust des Komponisten an kalligraphischer Sauberkeit, sondern ebenso seine Leidenschaft für ein skrupulöses Denken in Tönen, das subtile sinnliche Phantasie mit verwegenem Ordnungssinn und expressive Sensibilität mit ausgefeilt handwerklicher Akribie verbindet. Je gründlicher man sich aber in die polyphone Sache versenkt, desto größer wird das Erstaunen über die fast labyrinthische Beziehungs- und Verwandlungsfülle von Motiven, Rhythmen oder Farben zwischen den Sätzen des Zyklus’ und innerhalb der raffiniert ausgespiegelten Form-Architektur des Ganzen — wobei andererseits die poetische und musikalische Physiognomie durch einige wenige, relativ einfache Grundelemente motiviert und „gezeichnet“ zu sein scheint.

 

Auf den russischen Lyriker Arsenij Tarkovskij stieß Winkler durch Gedicht-Zitate in den Filmen „Stalker“ und „Spiegel“ von dessen Sohn Andrej Tarkovskij. Er war sowohl von der assoziativen Offenheit und Einfachheit der Sprachbilder, wie von der formellen poetologischen Strenge der Texte fasziniert. Ihnen entsprach kompositorisch die Idee (vergleichbar dem „Marteau sans Maître“ von Boulez), den vokalen Vertonungen von vier Gedichten rein instrumentale Paraphrasierungen, gleichsam exegetische Kommentare, an die Seite zu stellen und sie in kunstvoll gebrochener Vernetzung zu einem neunteiligen Zyklus zu fügen. Nur das Gedicht „Der Wald von Ignatewo“ an sechster Stelle bleibt singulär, während zum Gedicht „Nachtregen“ ein instrumentales Pendant (als Einleitung zum Zyklus) gehört und die Gedichte „Auch der Sommer verschwand…“ und „Syringen ihr, Syringen…“ durch jeweils zwei instrumentale Versionen ausgedeutet werden. Diese vier inhaltlich-musikalischen Binnenzyklen mit 1, 2 und 3 Sätzen gruppieren sich in teilweise getrennter, latent spiegelsymmetrischer Anordnung zu ebenfalls vier akustisch-rezeptiven Abteilungen, deren Sätze ohne Pause aufeinander folgen.

 

Diese Aufteilung der neun Sätze in Gruppen ist ein numerischer Ansatz, der bis hinein in die kompositorische Struktur (etwa der Rhythmik) Konsequenzen zeitigt. So entspricht ihm nicht nur die Gesamtheit der msuikzierenden Mitwirkenden, sondern genau auch die Besetzung des Instrumentariums mit je drei Holzbläsern und drei Streichern, zwei Schlaginstrumenten und einer Harfe. Nur im instrumentalen Schlussstück spielen alle zusammen, während ansonsten für jeden Satz eine individuelle Auswahl getroffen und namentlich in den Vokalsätzen — um der Textverständlichkeit willen — die Begleitung stark reduziert wird. Für die horizontale und vertikale Disposition des musikalischen Materials im engeren Sinne spielen darüber hinaus Primzahlen-Reihen eine beachtliche Rolle — unter anderem in Gestalt einer nicht-oktavierenden, doppelt symmetrisch angelegten Tonhöhen-Skala, die sich im Abstand von 13 Halbtönen wiederholt und aus der sich zwei ebenfalls symmetrische Grund-Akkorde ausgefiltert werden, auf die sich die Harmonik des gesamten Zyklus’ beziehen lässt.

 

Dem rationalen Kalkül verschwistern sich feilich genügend Impulse, die gleichsam „unreglementiert“ und als synästhetische „Einfälle“ der poetischen Aura der Texte, der metrischen und koloristischen prosodie ihrer Sprachgestalt, der Gedankenschwere und Erinnerungslast ihrer Bilder entspringen. Trotz der atonalen Wendungen und „ausdrücklichen“ Subtilität der Gesangslinien waltet hier, bei der meist syllabischen Gestaltung des Vokalparts, der deutlichste Respekt vor Traditionen, wie sie etwa Mussorgskij, Mahler, Janá?ek oder Messiaen verbürgen. Das gilt nicht minder für ein musikalisches Denken, bei dem die vokale und instrumentale Sphäre füreinander transparent bleiben, wo die Instrumente auch bei Winkler den Gesang fortsetzen, ihn ausdeuten und ihn neu, auch in umfassen kontrapunktierendem Sinne, bedenken. Und dies gilt schließlich, neben all den sozusagen autonomen Künsten der Konstruktion, für die klanglichen Äquivalente des lyrischen Ausdrucks, die ihre sprachliche Quelle nicht verdecken und sogar tonmalerische Effekte aufbieten, um konkreten Imaginationen der Dichtung plastische Gestalt zu verleihen. Wohl vor allem deshalb kann diese Musik substantiell verstanden und spontan erfühlt werden, auch wenn man von ihrer artifiziellen Struktur nichts weiß — oder nichts wissen will.

 

 

 

 

Ausführliche analytische und konzeptionelle Betrachtungen zum Stück in:

 

Stephan Winkler:

Konzeptionelle Begrenzung, Zeit- und Tonraumgliederung in meinem gleichnamigen vokal-instrumentalen Zyklus

nach Gedichten von Arsenij Tarkovskij (Diplomarbeit, 1990)

Manuskript (PDF auf Anfrage)