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comic strip

für großes Orchester in elf Gruppen

  1998   Besetzung: 4.3.3.2 – 5.3.3.1 – Hrf.Pf/Cel.Harm.Pk.5Sz – Str (16.14.9.9.8)  

~17'

[v1.1]

 

text

 

Aus dem Programmhefttext der Uraufführung von comic strip [v1.1]:

 

...fern verweht der Lärm des Pöbels...

Otto Erich Hartleben (nach Albert Giraud) in: Pierrot lunaire

 


Bei der Aufführung dieses Stückes wirken 97 Musiker mit. In elf Gruppen aufgeteilt, beherrschen sie die Bühne (wenngleich nicht nur). Das Grundgerüst des Stückes wird von rasant "narrativen" Abschnitten gebildet, von denen es zwei verschiedene — gewissermaßen männliche (A) und weibliche (D) — gibt. Zwei kontemplativ singende, leicht Drum’n’Bass-beeinflußte Teile (C)  übernehmen die dramaturgische Funktion leichtfüßiger Intermezzi. In zwei um den links ausgerichteten goldenen Schnitt gruppierten Teilen (B) werden kleine musikalische Automaten geboren, in das Biotop dieses Musikstückes hineingesetzt und aufeinander losgelassen. Im zweiten dieser (B-)Teile wird das musikalische Geschehen plötzlich recht drastisch abgebremst und auf einen Bruchteil seines Ausgangstempos verlangsamt: wie in einer sich rasch verlangsamenden Zeitlupe sehen wir nun kleine Details, die wir vorher (wegen der großen Geschwindigkeit) nicht hatten wahrnehmen können. Nun kann man tief in die strukturellen Details dieses Lebensraumes hineinblicken, wo wir wiederum, wenn nicht genau dasselbe, so doch ein erstaunlich ähnliches Biotop wiederfinden. Zwischendurch wird Luft geholt in einem Teil (E), in dem außer schwerem Atem und einem, den Shepard-Effekt imitierenden "Moebiusband" noch ein Vorverweis auf den Teil G und ein komplizierter Geräuschekanon zu vernehmen sind. Einen gewissen Raum nimmt in diesem Orchesterwerk der Versuch ein, die Phonetik menschlicher Sprache auf ähnlich akribische Weise wiederzugeben, wie es Messiaen mit Vogelstimmen versucht hat. In diesem Versuch gibt es natürlich etliche weitere Ahnen; um nur die Allerbekanntesten zu nennen: Bach — Mussorgskij — Schönberg — Janáček. Für diesen Teil habe ich einen hochdramatischen telephonischen Monolog mitgeschnitten und solchermaßen "vertont" (F). Das Stück endet in dieser Version [v1.1] mit Teil G — einer recht unzweideutigen musikalischen Evokation sinnlicher Vogänge. Vorhang zu!
(...und wie bei vielen Heftchen heisst es auch hier: Fortsetzung folgt!)

 

Anmerkung (2009):

 

comic strip erlebte vor zehn Jahren — als Version 1.1 — eine zwar schmeichelhaft enthusiastisch gefeierte, aber doch nur teilweise Uraufführung. Aus verschiedenen Gründen konnte damals das letzte Viertel der Reinschrift der Partitur nicht rechtzeitig fertiggestellt werden, obwohl die Komposition des Werkes beendet war. So folgt dem Höhepunkt des Stückes in dieser (auch auf CD veröffentlichten) Version nur ein kurzer, vorläufiger Schluss. Die analytischen Bemerkungen auf den weiteren Seiten zu comic strip beziehen sich in der Regel auf die vollständige Version (2 bzw. 3).

Noch ein paar wenige Worte zum Titel. Seit ich Anfang der neunziger Jahre in einem eher zufällig aufgesuchten Fachgeschäft einige überraschende Entdeckungen machte, enwickelte sich meine Begeisterung für bestimmte Formen jenes graphischen Genres, das im Deutschen mit dem Begriff comic zusammengefasst wird. In besonderer Weise nahmen mich die Arbeiten der US-amerikanischen Indepentent Comic Szene gefangen, welche — darin ihrem gemeinsamen Übervater Robert Crumb folgend — mit großer Virtuosität neue und künstlerisch anspruchsvolle Wege beschritten. Beipielhaft seien hier die Namen jener vier Großmeister des Faches genannt, deren Arbeiten ich auch heute noch ungemindert verehre: Chris Ware, Daniel Clowes, Jim Woodring und Charles Burns. Weit entfernt von Superheldenklischees und Marvel-typischen visuellen Routinen, sind die Geschichten dieser Zeichner von feinster Subtilität oder traumhafter Gewagtheit.

Dennoch waren es gar nicht diese Arbeiten, die für meine Arbeit an comic strip von Bedeutung waren. (Konkrete Bezugnahmen gibt es ohnehin keine und der Titel wurde auch erst kurz vor Redaktionsschluss des Programmheftes entschieden, spielte also bei der Komposition keine Rolle.) Wenn man eine Nähe zu graphic novels finden wollte, so könnte man vielleicht am ehesten an die Resultate der Zusammenarbeit zwischen Neil Gaiman und Dave McKean denken. Es sind dies in ihrer Dramaturgie anspruchsvoll verschachtelte und in ihrer visuellen Erzählweise stark von der Bildsprache des Films beeinflusste Bildgeschichten (oft in Romanlänge), deren gelegentlich grelle Farben und harte stilistische Kontraste auf intelligente Weise durch das geschilderte Geschehen legitimiert sind und so an die rasanten Szenenwechsel von Alpträumen erinnern. (Auf die Farbwelt eines fast komplett in Grün- und Violetttönen gezeichneten Bandes der beiden Genannten beziehen sich auch die von Markus Winkler für die Einladungskarten gestalteten Motive.)

Letztlich war die Titelwahl aber wohl vor allem ein wehmütiger Hinweis auf die beneidenswerten stilistischen Freiheiten, die auf anderen Gebieten der Kunstwelt gefeiert werden, während sie in der Domaine der Deutschen Neuen Musik als Entgleisungen geschmäht werden.